Wann ich
den Anfall von Torschlusspanik hatte, kann ich heute nach all der Zeit wirklich
nicht mehr so richtig nachvollziehen.
Es muss so um meinen vierzigsten Geburtstag herum gewesen
sein, dass mir plötzlich schmerzlich bewusst wurde, dass um mich herum zwar die
meisten Ehen zerbrachen – aber mir das Schicksal eines einsamen, verhärmten,
alten Mannes drohte, der irgendwann – wahrscheinlich nach Wochen des
Dahinfaulens – leblos in seiner Wohnung aufgefunden werden würde.
Das war eine Vorstellung, die mir auf einmal nicht mehr
behagte.
Obwohl ich natürlich bis dato immer meine Unabhängigkeit zelebriert
hatte: Ich hatte gelebt, oftmals so, als wenn es nicht unbedingt ein Morgen
geben würde; hab‘ mir so manche Droge und unzählige Liter Bier in den hohlen
Kopp gehauen und einige Ereignisse um mich herum nur in einem gnädigen Nebel
wahrgenommen.
Und dann war da plötzlich dieser seltsame Gedanke an einen
einsamen Tod…
Mit einem Mal war mir klar, dass ich diesem Zustand ein Ende
setzen musste, bevor es zu spät sein würde – Frau und Kinder waren doch das,
was ich eigentlich immer mal ins Auge gefasst hatte – für später halt.
Und jetzt war doch wohl später – wann wohl sonst…
Aber war es nicht vielleicht schon zu spät?
Immerhin hatte ich mich auf meinem Vierzigsten endgültig von
meiner Jugend verabschiedet und auch meine Ausrede, dieses Alter ja nach einem
Herzinfarkt kurz vor meinem 30. Geburtstag gar nicht erst zu erreichen, war von
heute auf morgen einfach hinfällig geworden.
Da stand ich nun… (ich armer Tor… - aber das wäre aus
Goethes Faust, der Tragödie Erster Teil, geklaut…).
Bevor ich dann Jahre später wirklich auf das letzte Mittel
in Form von Kontaktanzeigen hätte zurückgreifen müssen, kam mir der Zufall zur
Hilfe.
Meine wöchentliche Macke ist die Lektüre von Perry Rhodan,
einer Science-Fiction-Heftromanserie, die seit 1961 erscheint und so seit dem
elften oder zwölften Lebensjahr meine Leiblektüre geworden ist.
Und mit dieser
Macke – (Was wollt ihr? Andere sammeln Damenunterwäsche oder gucken jede Folge
GZSZ?) – stehe ich nicht einmal allein. Im Laufe meines Lebens habe ich dadurch
schon so einige Menschen kennengelernt und unter anderen dann auch Georg, der
dieses Hobby tatsächlich sogar noch exzessiver als ich betreibt und
nachweislich außer der seinerzeit verordneten Schullektüre niemals ein anderes
Buch in die Hand genommen hat.
Dieser Georg nun ist mit einer Thailänderin namens Lee – ihr
richtiger Name Phakakrong ist fast unaussprechlich - verheiratet und anlässlich
einer unserer Treffen lernte ich auf diesem Wege dann deren Schwester – Atchara
- kennen, die zu Besuch in Deutschland war und entscheidungsfreudig wie ich nun
mal bin (manchmal, doch wirklich…!) beschlossen wir in relativ kurzer Zeit,
Nägel mit Köpfen zu machen.
Auch wenn ich wusste, dass Atcharas primäres
Begehren ein Leben in Deutschland war.
Aus einer früheren Beziehung in Thailand hatte sie eine zu
diesem Zeitpunkt sechsjährige Tochter und für mich war es eine glasklare Sache,
dass dieses Kind nach unserer Hochzeit im März 2004 nach Deutschland kommen
müsse, um meine Patchwork-Familie zu komplettieren – und natürlich auch, weil
sie hier schulpflichtig wäre und ich der Ansicht war, dass es für sie am besten
sei, jetzt nach Deutschland zu kommen, wenn sie hier eine nachhaltige Zukunft
finden sollte.
Und so war es dann am Samstag, 24. Juli 2004 soweit:
Zusammen mit ihrer Tante kam sie am Kölner Flughafen an –
ein kleines, fremdes Mädchen aus Sukhothai mit dem beinahe unaussprechlichen
Namen Narissara, genannt Wee.
Atchara und ich waren ganz aufgeregt. Atcharas Aufregung rührte
daher, dass Wee das letzte Dreivierteljahr bei ihren Großeltern aufgewachsen
war, also eine längere Trennung beendet werden sollte.
Meine Aufregung war mehr darin begründet, dass ich mir schon
sehr unsicher war, wie das Kind meiner Frau fern der Heimat mit einem fremden
Menschen klarkommen würde, der nunmehr ihr Vater sein sollte und eine Sprache
sprach, die sie noch gar nicht verstand.
Ich setzte da schon voll bewusst auf die Fähigkeit von
Kindern, sich schnell an neue Umgebungen anzupassen und selbst war ich mir
eigentlich sicher, dass es mir ein Leichtes sein würde, mich mit dem Kind
zunächst anzufreunden und ihm in der Folge ein – wie auch immer gearteter –
Vater sein zu können, schließlich hatte ich einige Jahre Jugendarbeit auch
überlebt…
Und dann öffnete sich die automatische Schiebetür im
Ankunftsbereich und ich starrte angestrengt nach dem Kind, das ich bisher nur
von Bildern kannte.
Und zu meiner Schande muss ich sagen, dass ich sie im ersten
Moment auch nicht erkannt habe, wie sie da stolz den Gepäckwagen mit ihren
Koffern vor sich herschiebend auf Atchara und mich zukam.
Eine erste Musterung meiner Person durch Wee schien ich zu
bestehen, sie grüßte mich mit einem thailändisch-devoten „Saswahdee Kah“, wurde
von Atchara vor Freude fast erdrückt und ich stellte mich mit „Ich bin der
Reiner“ vor, worauf meine Frau gleich auf Thai konterte: „Das ist dein Papa“
und so war dann auch gleich geklärt, wie Wee mich ansprechen sollte, obwohl ich
auf den „Papa“ ehrlich gesagt gar nicht bestanden hätte.
„Wann sehe ich denn richtigen Schnee?“ war eine der ersten
Fragen, die sie auf der Fahrt vom Flughafen nach Leverkusen stellte (immer
übersetzt von Atchara), wobei sie angestrengt aus dem Fenster sah und die neuen
Eindrücke dieses fremden Landes begierig in sich aufsaugte.
Ihr neues, eigenes Zimmer gefiel ihr natürlich – in Thailand
war Wee zunächst bettelarm in einer Holzhütte aufgewachsen, mit Lehmboden – bis
Onkel Georg den Schwiegereltern ein richtiges Haus baute. Diese Holzhütte habe
ich zwei Jahre später bei meinem ersten und einzigen Thailandbesuch
kennengelernt – da wurde sie dann als Garage genutzt.
In den folgenden Wochen wurde ich ganz schön auf Trab
gehalten von diesem neugierigen Energiebündel, das mit mir durch die Gegend
wetzte und erst so nach und nach in der Lage war, sich rudimentär mit mir zu
verständigen.
Nie werde ich vergessen, wie wir durch Leverkusen liefen und
Wee ihren ersten deutschen Satz „Papa, was ist das?“ bei allen Gegenständen
angefangen vom Grashalm auf der Wiese bis zum Straßenschild anwandte und so von
mir Begriff zu Begriff immer mehr dieser neue Sprache lernte.
Im Nachhinein stellte sich meine Überlegung, sie sofort nach
der Hochzeit nach Deutschland zu holen, als die richtige Entscheidung heraus.
Nach sechs Wochen in Deutschland kam sie in die Schule – auf
Empfehlung einer Bekannten konnte ich sie in der Schlebuscher Waldschule
unterbringen, weil „die Lehrer sich da richtig um die Kinder kümmern“ – und vor
allem wollte ich unbedingt verhindern, dass sie auf eine katholische
Grundschule kam und dort deren mittelalterlichen Doktrin unterworfen wurde. Die
Teilnahme am evangelischen Religionsunterricht geschah auf freiwilliger Basis,
immerhin sind meine Frau und Tochter im buddhistischen Glauben aufgewachsen.
Und Wee lernte schnell:
Im Oktober saß sie morgens am Frühstückstisch und
radebrechte: „Ich weiß nicht, ob ich das richtig sage – aber mein Fahrrad ist
kaputt!“ – was mich in zweierlei Hinsicht fast vom Stuhl warf.
Zum einen, weil
ich mit Freuden feststellte, dass unsere Verständigung langsam aber sicher auf
eine solide Basis geriet und zum zweiten, weil ich mir nun Gedanken darüber
machen musste, wie ich mit meinen zwei linken Händen eine Fahrradreparatur
bewerkstelligen sollte…
Unvergesslich auch unsere gemeinsamen Abende, wenn Wee kurz
vor dem Schlafengehen mit mir zusammen ihren „Spongebob“ sah oder auch, wenn
sie unverhofft des Nachmittags zu mir kam und mich fragte, ob ich das Buch mal
aus der Hand legen könnte.
„Warum?“ konnte ich noch fragen, während ich das Buch weglegte,
dann warf sie sich auch gleich mit voller Wucht auf mich und schrie „Weil ich
jetzt kämpfen will!“ – in der Beziehung war sie damals beinahe ein Junge. Und
die Kämpfe gingen nicht immer zu meinen Gunsten aus…
In diesen Wochen und Monaten fühlte ich mich zum ersten Mal
wirklich erwachsen, ohne auf diese Erkenntnis wie sonst üblich mit Entsetzen zu
reagieren.
Ich war richtig stolz auf Narissara, wenn sie nachmittags aus der
Schule kam und aus ihrem Schulranzen einen in eine Serviette eingewickelten
Reibekuchen vom Mittagessen hervorkramte, weil „du magst doch gerne
Reibekuchen.“
Oder wenn sie, ohne selbst richtig lesen zu können,
allwöchentlich in die Schulbücherei spazierte und mit Weltraumbüchern nach
Hause kam, was ich mir nicht erklären konnte.
„Warum holst du dir immer so schwere Bücher, die du gar
nicht richtig verstehst?“ wollte ich bei einer Gelegenheit wissen.
„Du interessierst dich für Weltraum. Das will ich auch alles
wissen. Ich will alles wissen, was du weißt…“
Oh Mann!
In diesem Moment hatte ich wahrscheinlich den doppelten
Brustumfang, so sehr schwoll meine Brust vor Stolz.
Es fällt schwer, sich im Nachhinein an all diese kleinen und
wunderschönen Augenblicke zu erinnern. Etwa an Wees erstes Weihnachten und
natürlich auch ihren ersten Schnee, die erste Schlittenfahrt – alles
Ereignisse, die ich im Leben nicht mehr vergessen werde – wie auch jene ganz
speziellen Momente 2006 in Thailand:
Wir hatten Wee natürlich gefragt, ob sie während dieser
Ferien ihren leiblichen Vater, der sich irgendwann als sie noch ein Säugling
war, vom Acker gemacht hatte, treffen wolle.
„Nein. Ich habe jetzt einen neuen Vater“, war ihre Antwort.
„Der kümmert sich jetzt um mich…“
Ja, ohne weitere Worte…
Und unvergessen, wie Narissara sich Tage später nachts mal wieder
in die Mitte unseres Bettes zwischen meine Frau und mich durchkämpfte, mich im
Halbschlaf ganz fest umarmte und – ohne richtig wach zu sein – murmelte: „Du
bist jetzt mein Vater!“
Ich konnte vor lauter Stolz natürlich nicht mehr schlafen…
Mittlerweile sind neun Jahre vergangen; Wee strebt
zielsicher das Abitur an und ist jetzt natürlich in dem Alter, wo „Eltern
peinlich sind“, wie ich mir vor kurzem auch schon mal sagen lassen musste. Aber
da ich weiß, wie ich in dem Alter war, mache ich mir deswegen keine weiteren
Sorgen, denn wenn’s drauf ankommt, bin ich auch heute noch immer ihr erster
Ansprechpartner – „außer bei Frauenproblemen“, wie sie ausdrücklich betont –
aber damit kann ich sehr gut leben…
Und dann sitze ich jetzt hier – nachdem meine langjährige
Arbeitslosigkeit diese Familie zumindest vorerst auseinandergerissen hat –
alleine in meiner Küche und schlinge mein Abendessen hinunter.
Und mir fällt
plötzlich ein, wie oft wir früher in der Küche abends zusammensaßen und Wee mich dann mit ihrer kindlichen Frage „Papa, liebst du mich?“ öfters aus dem
Konzept brachte.
„Natürlich!“ dachte ich und gab stattdessen aber meist nur
ein undeutliches Grunzen von mir. Manchmal auch ein „Das weißt du doch“ und ich frage mich
plötzlich, ob ich alter Gefühlskrüppel vielleicht bei dieser Gelegenheit einmal
mehr meine Zähne hätte auseinander kriegen sollen, um ihre Frage laut und
deutlich zu bejahen.
Also sitze ich jetzt einmal mehr am Schreibtisch und haue in
die Tasten und hoffe, dass der richtige Mensch aus meinem Geschreibsel die
richtigen Schlüsse zieht…
Also, wenn Euch eure Kinder einmal mit dieser für sie so
immens wichtigen Frage kommen – seid nicht so blöd wie ich und gebt ihnen eine
Antwort…