Montag, 4. November 2013

Plötzlich Familie

Wann ich den Anfall von Torschlusspanik hatte, kann ich heute nach all der Zeit wirklich nicht mehr so richtig nachvollziehen.

Es muss so um meinen vierzigsten Geburtstag herum gewesen sein, dass mir plötzlich schmerzlich bewusst wurde, dass um mich herum zwar die meisten Ehen zerbrachen – aber mir das Schicksal eines einsamen, verhärmten, alten Mannes drohte, der irgendwann – wahrscheinlich nach Wochen des Dahinfaulens – leblos in seiner Wohnung aufgefunden werden würde.

Das war eine Vorstellung, die mir auf einmal nicht mehr behagte. 

Obwohl ich natürlich bis dato immer meine Unabhängigkeit zelebriert hatte: Ich hatte gelebt, oftmals so, als wenn es nicht unbedingt ein Morgen geben würde; hab‘ mir so manche Droge und unzählige Liter Bier in den hohlen Kopp gehauen und einige Ereignisse um mich herum nur in einem gnädigen Nebel wahrgenommen.

Und dann war da plötzlich dieser seltsame Gedanke an einen einsamen Tod…

Mit einem Mal war mir klar, dass ich diesem Zustand ein Ende setzen musste, bevor es zu spät sein würde – Frau und Kinder waren doch das, was ich eigentlich immer mal ins Auge gefasst hatte – für später halt.

Und jetzt war doch wohl später – wann wohl sonst…

Aber war es nicht vielleicht schon zu spät?

Immerhin hatte ich mich auf meinem Vierzigsten endgültig von meiner Jugend verabschiedet und auch meine Ausrede, dieses Alter ja nach einem Herzinfarkt kurz vor meinem 30. Geburtstag gar nicht erst zu erreichen, war von heute auf morgen einfach hinfällig geworden.

Da stand ich nun… (ich armer Tor… - aber das wäre aus Goethes Faust, der Tragödie Erster Teil, geklaut…).

Bevor ich dann Jahre später wirklich auf das letzte Mittel in Form von Kontaktanzeigen hätte zurückgreifen müssen, kam mir der Zufall zur Hilfe.

Meine wöchentliche Macke ist die Lektüre von Perry Rhodan, einer Science-Fiction-Heftromanserie, die seit 1961 erscheint und so seit dem elften oder zwölften Lebensjahr meine Leiblektüre geworden ist. 

Und mit dieser Macke – (Was wollt ihr? Andere sammeln Damenunterwäsche oder gucken jede Folge GZSZ?) – stehe ich nicht einmal allein. Im Laufe meines Lebens habe ich dadurch schon so einige Menschen kennengelernt und unter anderen dann auch Georg, der dieses Hobby tatsächlich sogar noch exzessiver als ich betreibt und nachweislich außer der seinerzeit verordneten Schullektüre niemals ein anderes Buch in die Hand genommen hat.

Dieser Georg nun ist mit einer Thailänderin namens Lee – ihr richtiger Name Phakakrong ist fast unaussprechlich - verheiratet und anlässlich einer unserer Treffen lernte ich auf diesem Wege dann deren Schwester – Atchara - kennen, die zu Besuch in Deutschland war und entscheidungsfreudig wie ich nun mal bin (manchmal, doch wirklich…!) beschlossen wir in relativ kurzer Zeit, Nägel mit Köpfen zu machen. 

Auch wenn ich wusste, dass Atcharas primäres Begehren ein Leben in Deutschland war.

Aus einer früheren Beziehung in Thailand hatte sie eine zu diesem Zeitpunkt sechsjährige Tochter und für mich war es eine glasklare Sache, dass dieses Kind nach unserer Hochzeit im März 2004 nach Deutschland kommen müsse, um meine Patchwork-Familie zu komplettieren – und natürlich auch, weil sie hier schulpflichtig wäre und ich der Ansicht war, dass es für sie am besten sei, jetzt nach Deutschland zu kommen, wenn sie hier eine nachhaltige Zukunft finden sollte.

Und so war es dann am Samstag, 24. Juli 2004 soweit:

Zusammen mit ihrer Tante kam sie am Kölner Flughafen an – ein kleines, fremdes Mädchen aus Sukhothai mit dem beinahe unaussprechlichen Namen Narissara, genannt Wee.

Atchara und ich waren ganz aufgeregt. Atcharas Aufregung rührte daher, dass Wee das letzte Dreivierteljahr bei ihren Großeltern aufgewachsen war, also eine längere Trennung beendet werden sollte.

Meine Aufregung war mehr darin begründet, dass ich mir schon sehr unsicher war, wie das Kind meiner Frau fern der Heimat mit einem fremden Menschen klarkommen würde, der nunmehr ihr Vater sein sollte und eine Sprache sprach, die sie noch gar nicht verstand.

Ich setzte da schon voll bewusst auf die Fähigkeit von Kindern, sich schnell an neue Umgebungen anzupassen und selbst war ich mir eigentlich sicher, dass es mir ein Leichtes sein würde, mich mit dem Kind zunächst anzufreunden und ihm in der Folge ein – wie auch immer gearteter – Vater sein zu können, schließlich hatte ich einige Jahre Jugendarbeit auch überlebt…

Und dann öffnete sich die automatische Schiebetür im Ankunftsbereich und ich starrte angestrengt nach dem Kind, das ich bisher nur von Bildern kannte.

Und zu meiner Schande muss ich sagen, dass ich sie im ersten Moment auch nicht erkannt habe, wie sie da stolz den Gepäckwagen mit ihren Koffern vor sich herschiebend auf Atchara und mich zukam.

Eine erste Musterung meiner Person durch Wee schien ich zu bestehen, sie grüßte mich mit einem thailändisch-devoten „Saswahdee Kah“, wurde von Atchara vor Freude fast erdrückt und ich stellte mich mit „Ich bin der Reiner“ vor, worauf meine Frau gleich auf Thai konterte: „Das ist dein Papa“ und so war dann auch gleich geklärt, wie Wee mich ansprechen sollte, obwohl ich auf den „Papa“ ehrlich gesagt gar nicht bestanden hätte.

„Wann sehe ich denn richtigen Schnee?“ war eine der ersten Fragen, die sie auf der Fahrt vom Flughafen nach Leverkusen stellte (immer übersetzt von Atchara), wobei sie angestrengt aus dem Fenster sah und die neuen Eindrücke dieses fremden Landes begierig in sich aufsaugte.

Ihr neues, eigenes Zimmer gefiel ihr natürlich – in Thailand war Wee zunächst bettelarm in einer Holzhütte aufgewachsen, mit Lehmboden – bis Onkel Georg den Schwiegereltern ein richtiges Haus baute. Diese Holzhütte habe ich zwei Jahre später bei meinem ersten und einzigen Thailandbesuch kennengelernt – da wurde sie dann als Garage genutzt.

In den folgenden Wochen wurde ich ganz schön auf Trab gehalten von diesem neugierigen Energiebündel, das mit mir durch die Gegend wetzte und erst so nach und nach in der Lage war, sich rudimentär mit mir zu verständigen.

Nie werde ich vergessen, wie wir durch Leverkusen liefen und Wee ihren ersten deutschen Satz „Papa, was ist das?“ bei allen Gegenständen angefangen vom Grashalm auf der Wiese bis zum Straßenschild anwandte und so von mir Begriff zu Begriff immer mehr dieser neue Sprache lernte.

Im Nachhinein stellte sich meine Überlegung, sie sofort nach der Hochzeit nach Deutschland zu holen, als die richtige Entscheidung heraus.

Nach sechs Wochen in Deutschland kam sie in die Schule – auf Empfehlung einer Bekannten konnte ich sie in der Schlebuscher Waldschule unterbringen, weil „die Lehrer sich da richtig um die Kinder kümmern“ – und vor allem wollte ich unbedingt verhindern, dass sie auf eine katholische Grundschule kam und dort deren mittelalterlichen Doktrin unterworfen wurde. Die Teilnahme am evangelischen Religionsunterricht geschah auf freiwilliger Basis, immerhin sind meine Frau und Tochter im buddhistischen Glauben aufgewachsen.

Und Wee lernte schnell:

Im Oktober saß sie morgens am Frühstückstisch und radebrechte: „Ich weiß nicht, ob ich das richtig sage – aber mein Fahrrad ist kaputt!“ – was mich in zweierlei Hinsicht fast vom Stuhl warf. 

Zum einen, weil ich mit Freuden feststellte, dass unsere Verständigung langsam aber sicher auf eine solide Basis geriet und zum zweiten, weil ich mir nun Gedanken darüber machen musste, wie ich mit meinen zwei linken Händen eine Fahrradreparatur bewerkstelligen sollte…

Unvergesslich auch unsere gemeinsamen Abende, wenn Wee kurz vor dem Schlafengehen mit mir zusammen ihren „Spongebob“ sah oder auch, wenn sie unverhofft des Nachmittags zu mir kam und mich fragte, ob ich das Buch mal aus der Hand legen könnte.

„Warum?“ konnte ich noch fragen, während ich das Buch weglegte, dann warf sie sich auch gleich mit voller Wucht auf mich und schrie „Weil ich jetzt kämpfen will!“ – in der Beziehung war sie damals beinahe ein Junge. Und die Kämpfe gingen nicht immer zu meinen Gunsten aus…

In diesen Wochen und Monaten fühlte ich mich zum ersten Mal wirklich erwachsen, ohne auf diese Erkenntnis wie sonst üblich mit Entsetzen zu reagieren.

Ich war richtig stolz auf Narissara, wenn sie nachmittags aus der Schule kam und aus ihrem Schulranzen einen in eine Serviette eingewickelten Reibekuchen vom Mittagessen hervorkramte, weil „du magst doch gerne Reibekuchen.“

Oder wenn sie, ohne selbst richtig lesen zu können, allwöchentlich in die Schulbücherei spazierte und mit Weltraumbüchern nach Hause kam, was ich mir nicht erklären konnte.
„Warum holst du dir immer so schwere Bücher, die du gar nicht richtig verstehst?“ wollte ich bei einer Gelegenheit wissen.

„Du interessierst dich für Weltraum. Das will ich auch alles wissen. Ich will alles wissen, was du weißt…“

Oh Mann!

In diesem Moment hatte ich wahrscheinlich den doppelten Brustumfang, so sehr schwoll meine Brust vor Stolz.

Es fällt schwer, sich im Nachhinein an all diese kleinen und wunderschönen Augenblicke zu erinnern. Etwa an Wees erstes Weihnachten und natürlich auch ihren ersten Schnee, die erste Schlittenfahrt – alles Ereignisse, die ich im Leben nicht mehr vergessen werde – wie auch jene ganz speziellen Momente 2006 in Thailand:

Wir hatten Wee natürlich gefragt, ob sie während dieser Ferien ihren leiblichen Vater, der sich irgendwann als sie noch ein Säugling war, vom Acker gemacht hatte, treffen wolle.
„Nein. Ich habe jetzt einen neuen Vater“, war ihre Antwort. „Der kümmert sich jetzt um mich…“

Ja, ohne weitere Worte…

Und unvergessen, wie Narissara sich Tage später nachts mal wieder in die Mitte unseres Bettes zwischen meine Frau und mich durchkämpfte, mich im Halbschlaf ganz fest umarmte und – ohne richtig wach zu sein – murmelte: „Du bist jetzt mein Vater!“

Ich konnte vor lauter Stolz natürlich nicht mehr schlafen…

Mittlerweile sind neun Jahre vergangen; Wee strebt zielsicher das Abitur an und ist jetzt natürlich in dem Alter, wo „Eltern peinlich sind“, wie ich mir vor kurzem auch schon mal sagen lassen musste. Aber da ich weiß, wie ich in dem Alter war, mache ich mir deswegen keine weiteren Sorgen, denn wenn’s drauf ankommt, bin ich auch heute noch immer ihr erster Ansprechpartner – „außer bei Frauenproblemen“, wie sie ausdrücklich betont – aber damit kann ich sehr gut leben…

Und dann sitze ich jetzt hier – nachdem meine langjährige Arbeitslosigkeit diese Familie zumindest vorerst auseinandergerissen hat – alleine in meiner Küche und schlinge mein Abendessen hinunter. 

Und mir fällt plötzlich ein, wie oft wir früher in der Küche abends zusammensaßen und Wee mich dann mit ihrer kindlichen Frage „Papa, liebst du mich?“ öfters aus dem Konzept brachte.

„Natürlich!“ dachte ich und gab stattdessen aber meist nur ein undeutliches Grunzen von mir. Manchmal auch ein „Das weißt du doch“ und ich frage mich plötzlich, ob ich alter Gefühlskrüppel vielleicht bei dieser Gelegenheit einmal mehr meine Zähne hätte auseinander kriegen sollen, um ihre Frage laut und deutlich zu bejahen.

Also sitze ich jetzt einmal mehr am Schreibtisch und haue in die Tasten und hoffe, dass der richtige Mensch aus meinem Geschreibsel die richtigen Schlüsse zieht…


Also, wenn Euch eure Kinder einmal mit dieser für sie so immens wichtigen Frage kommen – seid nicht so blöd wie ich und gebt ihnen eine Antwort…

1 Kommentar:

  1. ich weis aus eigener Erfahrung wie schwer das ist diesen Satz auszusprechen, selbst wenn man(n) es ganz deutlich spürt

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