Wutverzerrte Gesichter plötzlich
reihum.
„An den
nächsten Baum g’hört so oaner!“ ereiferte sich jemand in finsterstem
bayerischen Dialekt und riesige Bauernpranken griffen unkontrolliert nach
Harry, der einen schnellen Blick in die Runde warf. Seine Freunde wurden
ebenfalls von einer sich erregenden Masse trachtengewandeter Kleiderschränke
bedrängt und Harry entschloss sich gemäß seinem jahrhundertealten Familienmotto
„Angst? Hab ich keine – aber Laufen kann ich!“ den taktischen Rückzug
einzuleiten und bahnte sich den Weg durch die aufgebrachte Menge.
Er sah,
dass seine Begleiter sich ebenfalls aus dem Mob lösen konnten und dann nahmen
sie alle die Beine in die Hand; machten, dass sie von der Theresienwiese kamen
und möglichst eine größere Distanz zwischen sich und die erzürnte Bayernmeute
brachten. Während er rannte nahm sich Harry zum x-millionsten Male vor, endlich
mal zu lernen, sein großes Maul zu halten…
Was, zum Teufel, war jetzt schon
wieder passiert?
1986
verschlug es Jochen, einen alten Kumpel Harrys beruflich von Burscheid nach
Fürstenfeldbruck und so ergab sich für ihn und einige Freunde, die Gelegenheit,
endlich mal den langgehegten Wunsch, das Münchener Oktoberfest zu besuchen, in
Angriff zu nehmen. Schließlich hatte man das dringendste Problem – ein erschwingliches
Nachtquartier zu finden – mit Jochens Emigration nach Bayern auf elegante und
kostengünstige Weise gelöst.
Und so
brachen eines späten Freitagnachmittags Harry, Horst, Uwe und dessen
Arbeitskollege Thomas mit einem nächtlichen Bummelzug von Köln aus auf ins
entfernte Bayern, um Jochen heimzusuchen und dann in trauter Runde am Samstag
einen vergnüglichen Nachmittag oder Abend auf dem berühmtesten Volksfest der Welt
zu verbringen, bevor man sich dann Sonntags wieder Richtung Heimat aufmachen
wollte.
Natürlich waren die mitgeführten
Biervorräte schon
nach kurzer Zeit aufgebraucht und der mobile Getränkeverkäufer, der mit seinem
Wägelchen durch die Abteile zog, machte auf dieser Tour trotz seiner
überzogenen Preise einen beträchtlichen Umsatz.
Die vier
belegten vergnügt ein freies Abteil und waren voller bierseliger Vorfreude, die
auch nicht gestört wurde, als sich eine einzelne Dame in ihr Abteil verirrte,
sich in eine Ecke setzte und sich dann in ein Buch vertiefte. Alle vier waren
natürlich zu den üblichen derben Späßen aufgelegt und irgendwie musste sich
Harry hier wieder einmal besonders hervorgetan haben, denn urplötzlich sprang
die lesende Dame auf und sah mit zornfunkelnden Augen in die Runde, während sie
ihr Gepäck ergriff und die Abteiltür aufriss.
„Der da“,
und sie zeigte mit zitterndem Finger auf Harry, der noch den Lachkrampf seiner
letzten Zote verarbeiten musste.“ Der da ist ja wohl der absolute Frauenfeind!
Hier bleibe ich keine Minute länger!“
Sprach’s und verschwand
wutschnaufend aus dem Abteil.
Die vier
sahen sich verständnislos an und feixten.
„Fuchs, du
Weiberfeind“ grinste Uwe. „Du vergraulst uns aber auch immer die Frauen!“
Harry
zuckte nur die Schultern und war sich keiner Schuld bewusst, schließlich hatten
sie alle nur die üblichen Männerzoten auf einer Sauftour von sich gegeben – na ja,
vielleicht hatte Harry hin und wieder noch ‚ne Schippe extra draufgelegt.
Konnte vorkommen, wenn ihn der Teufel ritt. Und bei dieser Tour hatte er
verdammt gute Laune.
Der Vorfall
war nach der nächsten Runde Büchsenbier aber eh schnell wieder vergessen.
Kurz darauf gingen zwei Frauen an
dem Abteil vorbei,
sahen kurz in die Runde und Uwe und Horst winkten eifrig. Auf dem Rückweg kamen
die beiden, bewaffnet mit einigen Bierdosen ins Abteil.
„Hey, die
Sonne geht auf!“ grölte Horst.
„Sach jetzt
nix falsches, Alter“, warnte Uwe mit einem Funkeln im Blick und schubste Harry
in die Seite.
Harry
machte ein unschuldiges Gesicht und grinste eine der beiden Blondinnen an, die prompt
neben ihm Platz nahm.
Es stellte
sich heraus, dass zu den beiden – ach wie passend – noch zwei weitere
Freundinnen gehörten, die in einem benachbarten Abteil warteten. Die vier Mädels
waren auf Kegeltour irgendwohin in den Süden – wohin interessierte weder Harry
noch seine drei Begleiter. Nach kurzer Zeit waren alle vier Frauen in ihrem
Abteil und in bierseliger Laune waren bald Zungen und Hände all überall auf
munterer Entdeckungstour.
Wäre zu der Zeit ein Schaffner ins
Abteil gekommen,
hätte er sicherlich geglaubt, das biblische Sodom samt Nachbarstadt Gomorrha
wäre in dieses Abteil verlegt worden und Harry dachte im Nachhinein, dass
Frauen alleine auf Kegeltour nicht Opfer sondern aktive Jägerinnen wären, denn
geziert hatte sich keine der vier, obwohl alle erzählten, verheiratet zu sein.
Im Hinterkopf notierte sich Harry, sollte er jemals heiraten, würde er seiner
Frau – wenn schon nicht das Kegeln an sich – aber auf jeden Fall Kegeltouren im
Alleingang untersagen…
Bevor aus
dem fröhlichen Knutsch-Inn eine wüste Orgie werden konnte, erreichten die vier
Mädels ihren Zielbahnhof und den Rest der Fahrt verbrachten Harry, Horst, Uwe
und Thomas zunächst mit der Vernichtung weiterer Bierdosen und zuletzt mit
einem unbequemen Nickerchen in den Abteilsitzen, bevor man in den frühen
Morgenstunden München und etwas später Fürstenfeldbruck und Jochens Wohnung
erreichte, wo die vier im Wohnzimmer quer auf dem Boden verstreut erst einmal
den versäumten Schlaf nachholten, um für die nachmittags geplante Tour zur Wies’n
gerüstet zu sein.
Am frühen Nachmittag war man wieder
fit, geduscht und
gestylt und frohen Mutes ging es zum S-Bahnhof Fürstenfeldbruck, wo in einer
nahen Gaststätte erst einmal für eine solide Biergrundlage gesorgt wurde, bevor
es dann weiter ins gelobte Land – sprich zum Münchener Oktoberfest ging.
„‘ne etwas
größere Kirmes“, resümierte Uwe nach einem ersten Rundgang über die berühmte
Wies’n, „nur mit horrenden Preisen.“
Die anderen
konnten ihm da aus ganzem Herzen zustimmen. Letzten Endes war das Ganze ein
gigantischer Nepp mit bemühter bayrischer Volkstümlichkeit, zugeschnitten auf
die zumeist auch ausländischen Besucher, die im Anschluss heimreisen und in
ihrer Heimat verbreiten würden, dass in Deutschland alle in bescheuerten
Lederhosen und mit komischen Hüten rumlaufen würde – die Damen würden alle ihre
Auslagen in enge Dekolletees quetschen, die jederzeit aus allen Nähten zu
platzen drohten und als Gipfel des Ganzen, würden sich alle hemmungslos
besaufen und dabei zu Blasmusikkapellenbegleitung schunkeln und Schweinshaxen
in sich reinschaufeln, bis sie von den Bänken fielen…
Irgendwann fanden die fünf einen
Platz vor einem der vielen Zelte,
in denen die großen Gaudi-Shows für Promis und andere halbseidene Möchtegerns
stattfanden und bestellten sich voller Vorfreude ihre ersten Runde Wies’n-Maß.
„Eh“,
maulte Harry und starrte auf den Krug vor sich, in dem der schwindende Schaum
leidlich Zeugnis davon ablegte, dass die Maß keine Maß war. „Könnt ihr auch mal
richtig voll Zapfen?“
Die
Kellnerin – ein Baum von einer Frau, die mühelos 10 und mehr der Ein-Liter-Krüge
stemmte, bedachte ihn mit einem
verächtlichen Seitenblick und murmelte etwas wie „Preiß ‘n halt.“
Und verschwand
wieder.
„Komm, hör
auf zu meckern“, Horst hob seinen Krug und alle stießen sie an. „Lasst uns
lieber anfangen…“
Es kam Runde auf Runde – leider immer wieder in nicht vollgezapften
Krügen und aller Protest nutzte nichts. Die Bedienung würdigte sie nur mit
verächtlichen Blicken, ohne natürlich das Kassieren zu vergessen. Für die
nichtvollen Gläser gab es natürlich auch kein Trinkgeld. Nichtsdestotrotz stieg
die Laune der fünf immer mehr und es gab gar erste Verbrüderungen mit
lederbehosten Einheimischen und deren zumeist in viel zu enge Dirndl gezwängten
Begleiterinnen.
Irgendwann
kam zum wiederholten Male eine nicht vollgezapfte Runde an und neuerliches
Gemecker der „Preußen“ wurde mit Verachtung abgestraft.
„Warum, zum Teufel“, hob Harry
plötzlich an. „Warum
und worauf seid ihr gottverdammten Bauern eigentlich so verdammt stolz, ja
geradezu arrogant?“
Er hatte
sich erhoben, nahm einen tiefen Schluck aus seinem Krug und starrte die
Gesellschaft an seinem Tisch an, die inmitten des Oktoberfesttrubels auf einmal
ganz still wurde.
„Ja, worauf
bildet ihr euch so verdammt viel ein? Ihr Bauern…“
Horst und
Uwe winkten ihm, er solle still sein und rollten verzweifelt mit den Augen –
aber Harry war wieder einmal in seinem Element, obwohl schon bei der
Bezeichnung „Bauern“ die meisten Blicke nicht mehr von Neugier sondern von
unverhohlener Wut zeugten.
„Doch nicht
etwa auf so einen schwulen, beknackten Lackaffen mit seinen lächerlichen
Schlössern…“
Es hätte eine tolle Rede werden
sollen aber mit
einem Mal schlug Harry der blanke Hass entgegen. Kleiderschränke in
(lächerlichen) Lederhosen sprangen auf und knallten ihre Bierkrüge vor sich auf
die Tischplatte. Einer krempelte demonstrativ seine Hemdsärmel auf und schickte
sich an, um den Tisch herum zu kommen.
„Der hatte
doch voll einen Hau weg…“ wollte Harry fortfahren.
„Hängt ihn
auf!“ forderte jemand. „Der lästert den Kini!“
„Ja, an den
nächsten Baum g’hört so oaner!“ ereiferte sich ein anderer und auch Harry sah
ein, dass er irgendetwas Falsches gesagt haben musste und in Anbetracht der
wütenden Masse vor ihm, entschloss er sich, schleunigst das Weite zu suchen.
Zum Glück
war er klein, dick und wendig und so entschlüpfte er seinen nächsten Angreifern
und schaffte es, in der Menge der anderen Besucher unterzutauchen. Nur aus den
Augenwinkeln nahm er wahr, dass seine Freunde seinen Rückzug mitmachten und zum
Glück war es nicht weit, bis um die nächste Ecke, wo sich Harry nach Luft
schnappend gegen die Hauswand lehnte und vorsichtig zurückblickte und dankbar
sah, dass ihm außer seinen Freunden niemand folgte.
Uwe schritt
sogar relativ lässig voran und schwenkte den halbvollen Bierkrug, den er in dem
Getümmel mitgenommen hatte und nahm einen tiefen Schluck.
„Also eins ist sicher, Harry“,
grollte er und wischte sich den Schaum aus dem Schnäuzer, „Mit dir Großmaul war
ich zum letzten Mal auf dem Oktoberfest!“
Auf der
Rückfahrt am nächsten Tag konnten alle wieder darüber lachen – aber tatsächlich
reiste niemand aus der Gruppe jemals wieder zum Oktoberfest…