Samstag, 4. Januar 2014

Nachts im Wald


"Was haltet ihr eigentlich davon, wenn ich uns mal `n paar gute Trips besorge?"
Hans stellte die Frage in den Raum, während er sich eine neue Mischung in den Kopf der Huka schaufelte, die er sich dann genüsslich anzündete und mit einem kräftigen Zug inhalierte. Während er eine dicke Rauchwolke ausstieß blickte er sich unter seinen fünf Kumpels um.
Tobias war natürlich wie immer Feuer und Flamme, wenn es darum ging Substanzen auszuprobieren, die sich "so richtig rappelten und drehten". In den Blicken der vier anderen lag eine gewisse Skepsis und natürlich war es wieder einmal Harry, der Bedenken anmeldete.
"Also ich weiß nicht", hob er an, während die Huka auf ihrer Runde bei ihm landete und er sich ebenfalls erst einmal einen guten Zug genehmigte. "Das sind wieder die härteren Sachen, von denen ich eigentlich die Finger lassen wollte…"
"Och, du Mimöschen", stichelte Tobi. "Das ist ganz harmlos. Das ist LSD…"
"Ach, LSD ist also harmlos?"
"Na ja", schränkte Hans ein. "Wenn man es nur ab und zu mal nimmt. Ist genau wie mit dem Koksen…"
"Ja, da hab ich so meine Erfahrungen gemacht."
Harry schüttelte sich, als er daran zurückdachte, wie er Jahre zuvor einmal Freitags Abend mit Rolf und jemand anders einen Heroin-Koks-Mix geschnieft hatte, der ihn geschlagene drei Tage komplett ausgeknockt hatte. Er war so weggetreten gewesen, dass ihn Rolf Samstagmorgens in den Klassenraum tragen wollte und am Montag sollte er der Legende nach sogar im Büro gewesen sein – an seinem freien Tag!
Und bis zum heutigen Tag – irgendwann im Spätsommer 1982 – fehlte ihm an dieses Ereignis ab dem Moment der Einnahme so ziemlich jede Erinnerung. Daraufhin hatte er sich hoch und heilig geschworen, dass solcherlei Drogenexperimente für immer und ewig der Vergangenheit angehören sollten.
Und er war auch bisher immer eisern gewesen, wenn sich jemand sein Näschen pudern wollte – okay, jeder war seines eigenen Glückes Schmied, er hingegen legte keinerlei Wert mehr auf das weiße Pülverchen.
"Was gibt's denn?" fragte Jörg mäßig interessiert.
"Ganz gute Papers sind zurzeit im Umlauf. Mit dem Bild draufgedruckt, ähnlich wie das Alan-Parsons-Cover von "Eye in the sky"." Erwiderte Hans und lehnte sich auf der Couch zurück. "Ich käme da günstig dran, wenn ich ein paar mehr nehmen würde…"
"Ich weiß nicht", entgegnete Harry.
"Wir könnten die alle zusammen einklinken und dabei eine schöne Tour durchs Eifgen machen." Schlug Robert vor und rieb sich die Hände. "Eine Nachtwanderung, das hätte was…"
"Im Wald auf Trip?" Harry klang alles andere als begeistert.
"Wir passen schon auf dich Blindfisch auf!" versprach Jörg gönnerhaft und hieb Harry auf die Schulter.
"Lass uns das mal alles genau durchgehen…" Robert blickte sich in der Runde um und erkannte, dass er allgemeine Zustimmung fand.
Es sollte bis zum übernächsten Wochenende dauern, bis die Papers besorgt und alles für den großen Abend vorbereitet war.
Man traf sich wie beinahe täglich in Harrys "Ritterburg", ihrem Domizil im Stadtzentrum, und gönnte sich zunächst ein kleines Ründchen Rauchware als Einstimmung.
Getränke, einige Knabbereien, eine Feldflasche mit Wasser waren schnell in einem Rucksack verpackt, den Tobi mitgebracht hatte.
Länger dauerte es schon, eine größere Mischung aus Haschisch und Tabak vorzubereiten, damit man sich unterwegs nicht "mit solchen Kleinigkeiten" abgeben müsse und natürlich wurde die Huka gründlich gereinigt.
Der Plan war, zunächst am frühen Abend nach Hilgen zum Eifgenhöhenweg zu pilgern, wo man sich dann gemeinsam die besagten Trips einverleiben wollte, um dann durch das Eifgental bis nach Sträßchen und von dort dann weiter zur heimatlichen Burg zu wandern.
Endlich waren alle Vorbereitungen abgeschlossen und die sechsköpfige Bande, verstärkt durch Günther, der nur ab und an zu ihrer Runde gehörte, war abmarschbereit.
Nur Harry stand noch im Flur vor seinem Schuhschrank und grübelte offensichtlich über ein mittelschweres Problem.
"Was ist los, Dicker?" stichelte Jörg. "Willste auf Socken mit?"
"Ne, ne. Ich will nur nicht mit den besten Schuhen durch den Wald stapfen." Er grinste und nahm ein braunes paar Stiefeletten aus dem Schuhschrank.
"Die stehen schon so lange im Schrank. Ich hab ganz vergessen, warum ich die nicht mal wieder anziehe."
Später am Abend sollte ihm dann nicht nur dämmern, warum er diese Schuhe in den Schrank verbannt hatte…
Es dauerte einige Zeit, bis die Truppe, die sich untereinander gerne als die Tafelrunde bezeichnete, an ihrem ersten Ziel, einer Rasthütte auf dem Eifgenhöhenweg ankamen und sich mit ihren Utensilien dort erst einmal breit machten.
Hans verteilte die Trips, die jeden einen Zehner gekostet hatten und alle schluckten die Dinger.
Harry fiel auf, dass sie tatsächlich lediglich wie ein Stück Papier schmeckten – völlig geschmacklos und nach der Einnahme saß er still in der Hütte und lauschte in sein Inneres, um der Dinge zu harren, die da jetzt kommen würden.
Aber – es geschah nichts.
"Die Dinger sind aber rausgeschmissenes Geld", klagte Harry dann auch nach einer Viertelstunde, während die Bierdosen und die Huka eifrig die Runde machten.
"Ey Alter", Jörg konnte sich das Lachen kaum verkneifen. "Du musst abwarten, die Dinger brauchen eine Zeit, bis sich der Stoff durch deinen Blutkreislauf in deine hohle Birne vorgekämpft hat und dann den Hirnhammer auspackt. Warte ab."
"Ja, warte ab und rauch erst mal einen!" Günther reichte ihm die Huka und Harry tat, wie ihm geheißen.
Irgendwann wurde die Stimmung alberner und vor allem Harry und Günther kugelten sich in einem Lachflash beinahe auf dem Tisch der Hütte – was die meisten der anderen nicht nachvollziehen konnten.
"Ich schätze", sagte Hans zufrieden und zog erneut an der Huka. "So langsam wirken die Dinger. Bei Günther und Harry auf jeden Fall…"
Die vorbereitete Mischung hatte gerade mal eine Stunde gehalten und hatte sich buchstäblich in Rauch aufgelöst. Das war das Zeichen zum Aufbruch für den Rückmarsch durch das Eifgental.
Es dunkelte langsam und Harry stiefelte ruhig inmitten der Gruppe durchs Gebüsch, als er von Jörg und Tobias rechts und links zurückgezerrt wurde.
"Oh Mann, wo willst du denn hin?" fragte Tobi und grinste.
"Wieso? Ich gehe doch mit euch…" Harry wirkte leicht desorientiert.
"Na klar!" Jörg zeigte nach rechts, wo sich die anderen vier der Gruppe aufhielten. "Wir marschieren alle da vorne und du bist plötzlich verschwunden!"
"Quatsch! Ich bin immer bei euch!" Harry sah sich um und registrierte, dass Robert einen weißen Pullover trug. "Ich folge Robert, der hat als einziger einen weißen Pulli an. Keine Angst, Jungs, ich hab alles im Griff…"
Sprach's riss sich los und stiefelte hinüber zu seinen Kumpanen. In der Folge lief der immer stur dem weißen Pullover nach – Glaubte er, denn mehrmals wurde er wieder von Tobi, Jörg, Hans oder gar Robert selbst behutsam wieder auf den rechten Weg geführt. Harry schüttelte den Kopf. Er sah Robert ganz klar vor sich, nur warum erklang dessen Stimme von hinten?
An einem Teich legte die Tafelrunde eine Pause ein.
Jörg setzte sich mit dem Rücken an einen Baum und kramte in seinen Taschen.
"Ich bau uns mal `ne Tüte", verkündete er.
Harry trat an das hölzerne Geländer des Teichs und starrte still hinaus auf die unendliche Weite des Wassers, in der sich der Mond spiegelte.
Ewigkeiten vergingen und die Wasserfläche wuchs und wuchs und drohte ihn im Laufe der Jahre vollständig zu umschließen und…
Harry fuhr herum und da saß Jörg an den Baum gelehnt und hatte gerade drei Zigarettenblättchen kunstvoll zusammengeklebt.
"Keine Panik, Harry", er kramte in einer anderen Tasche nach dem Dope. "Das Zeitgefühl kann schon mal durcheinandergeraten…"
"Ich hab' jahrelang inmitten des Teichs gestanden…"
"Jo, jetzt biste richtig drupp, Alter!" Hans stand kurz neben ihm, schlug ihm wohlwollend auf die Schulter und ging zu Jörg, der gerade die Tüte fertigstellte.
Harry wandte sich wieder dem Teich zu und starrte hinaus auf die Wasserfläche.
"Macht Spaß, mich anzustarren?"
Die Stimme kam aus dem Nichts, gehörte zu keinem seiner Freunde und Harry hätte schwören können, dass sie direkt in seinem Kopf erklang.
"Was, wie denn jetzt?"
"Du glotzt mich schon die ganze Zeit so dämlich an…"
Der Teich warf wilde Wellen und Harry hätte geschworen, dass sie nach ihm griffen.
"Ich glotze nicht…"
"Nein, natürlich nicht. Du bist einfach nur blöde und kannst nicht anders…"
Irre! Schoß es Harry durch den Kopf, jetzt steh ich hier und diskutiere mit `nem schäbigen Teich…
"Ich bin nicht schäbig! Du Loser!"
"Und ich bin kein Loser!" entgegnete Harry hitzig. "Und überhaupt – Teiche können nicht reden…"
"So – und warum redest du dann mit mir, du Knalltüte?"
Der Teich bewegte sich wieder und fast erschien es Harry, er würde ihm eine gigantische Wasserzunge herausstrecken.
"Du redest mit mir!"
"Hah" machte der Teich. "Erzähl das mal einem Psychotypen – der legt dir gleich zwei Zwangsjacken um…"
Ein Teich konnte doch nicht spotten – oder doch? Harry fuhr wieder zu seinen Kumpels herum, die gerade den Joint in Brand steckten und ihn kreisen ließen. Als er bei ihm ankam nahm er einen tiefen Zug, bevor er sich wieder dem Teich zuwandte.
"Das ist alles, was du kannst, was Alter?" Deutlicher Hohn klang in den Worten des Teichs. "Dir den ganzen Tag die hohle Birne zukiffen und sonst nichts. Was hat dein Leben überhaupt für einen beschissenen Sinn?"
"Mein Therapeut – der Teich…" spottete Harry gedanklich zurück und sah wie die Fluten des unendlichen Sees immer mehr anschwollen und wie ein Tsunami auf ihn zukamen – langsam, sehr langsam aber unaufhaltsam…
"Sag mir doch – was für einen Sinn hat dein Leben?" ätzte das Wasser. "Wenn du nicht so ein erbärmlicher feiger Wicht wärst, wüsstest du, was du jetzt tun müsstest…"
In der näherkommenden Wasserwand lockten nackte Mädchenkörper, streckten die Hände nach ihm aus und in ihren Gesichtern spiegelte sich unverhohlenes Verlangen nach…
"Ich spring nicht!" Trotz regte sich in Harry und gedanklich trat er einen Schritt von der näherkommenden Wasserwand zurück – erfolglos, denn die Flut folgte ihm unaufhaltsam und eine teuflische Grimasse bildete sich darin und grinste ihn mit feurigen Augen an.
"Wenn du ein Kerl wärst, würdest du den letzten und konsequenten Schritt tun. Jetzt… Komm…Trau dich…"
Eine Berührung auf der rechten Schulter ließ ihn zusammenfahren. Neben ihm stand ein Dämon mit einem riesigen Gesicht, in dem zwei Augen unheilverkündend glühten.
Harry schrak zurück.
"Hey, ruhig, Junge", sagte der Dämon und verwandelte sich in Jörg, der ihn besorgt musterte. "Wir gehen weiter…"
Harry schloss sich den Jungs an, diesmal hakte ihn Jörg unter, damit er nicht wieder auf Abwege geriet.
"Ich wusste doch, dass du ein feiges Aas bist", höhnte der Teich in seinem Rücken. "Keinen Mumm zu gar nichts! Versager!"
Harry schüttelte den Kopf und zeigte dem Teich den Stinkefinger, woraufhin die tosenden Fluten augenblicklich zurückwichen und wieder zu der kleinen glatten Fläche des Teichs wurden.
"Oh, Mann", jammerte Harry, der mit einem Mal einen Schmerz in beiden Füssen verspürte, der schon länger da gewesen sein musste und wohl nur verdrängt worden war.
Jeder Schritt ließ heftige Stiche in den Fersen beider Füße durch sein Bewusstsein fluten und dann fiel ihm auch endlich wieder ein, warum er die Schuhe ganz weit nach hinten in den Schuhschrank verbannt hatte. In beiden Schuhe kamen die Nägel des Absatzes durch und bohrten sich schon die ganze Zeit erbarmungslos in das Fleisch seiner Füße.
"Man", dachte er. "Erst versucht dich so ein dämlicher Teich zum Selbstmord zu überreden und jetzt werde ich von meinen Schuhen aufgefressen!"
Der Rückweg gestaltete sich trotz dämpfender Drogen als eine schmerzhafte Angelegenheit für Harry und der Spott seiner Kumpels war ihm gewiss.
Er schlug drei Kreuze, als sie alle einige Stunden später wieder wohlbehalten in der "Ritterburg" eintrafen und er sich endlich, endlich, endlich die Schuhe von den Füssen reißen konnte:
Von den beiden Socken war nicht mehr viel an der Ferse übrig geblieben. Die Fersen selbst waren durchlöcherte, blutige Fetzen.
Die Schuhe wanderten flugs dahin, wo sie schon vor langer Zeit hingehört hätten – in den Müll.
Der Rest des Abends versank kurz darauf gnädiger Weise im Nebel des Vergessens…

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