Samstag, 18. Januar 2014

Das Oktoberfest-Debakel



Wutverzerrte Gesichter plötzlich reihum.
„An den nächsten Baum g’hört so oaner!“ ereiferte sich jemand in finsterstem bayerischen Dialekt und riesige Bauernpranken griffen unkontrolliert nach Harry, der einen schnellen Blick in die Runde warf. Seine Freunde wurden ebenfalls von einer sich erregenden Masse trachtengewandeter Kleiderschränke bedrängt und Harry entschloss sich gemäß seinem jahrhundertealten Familienmotto „Angst? Hab ich keine – aber Laufen kann ich!“ den taktischen Rückzug einzuleiten und bahnte sich den Weg durch die aufgebrachte Menge.
Er sah, dass seine Begleiter sich ebenfalls aus dem Mob lösen konnten und dann nahmen sie alle die Beine in die Hand; machten, dass sie von der Theresienwiese kamen und möglichst eine größere Distanz zwischen sich und die erzürnte Bayernmeute brachten. Während er rannte nahm sich Harry zum x-millionsten Male vor, endlich mal zu lernen, sein großes Maul zu halten…
Was, zum Teufel, war jetzt schon wieder passiert?

1986 verschlug es Jochen, einen alten Kumpel Harrys beruflich von Burscheid nach Fürstenfeldbruck und so ergab sich für ihn und einige Freunde, die Gelegenheit, endlich mal den langgehegten Wunsch, das Münchener Oktoberfest zu besuchen, in Angriff zu nehmen. Schließlich hatte man das dringendste Problem – ein erschwingliches Nachtquartier zu finden – mit Jochens Emigration nach Bayern auf elegante und kostengünstige Weise gelöst.
Und so brachen eines späten Freitagnachmittags Harry, Horst, Uwe und dessen Arbeitskollege Thomas mit einem nächtlichen Bummelzug von Köln aus auf ins entfernte Bayern, um Jochen heimzusuchen und dann in trauter Runde am Samstag einen vergnüglichen Nachmittag oder Abend auf dem berühmtesten Volksfest der Welt zu verbringen, bevor man sich dann Sonntags wieder Richtung Heimat aufmachen wollte.
Natürlich waren die mitgeführten Biervorräte schon nach kurzer Zeit aufgebraucht und der mobile Getränkeverkäufer, der mit seinem Wägelchen durch die Abteile zog, machte auf dieser Tour trotz seiner überzogenen Preise einen beträchtlichen Umsatz.
Die vier belegten vergnügt ein freies Abteil und waren voller bierseliger Vorfreude, die auch nicht gestört wurde, als sich eine einzelne Dame in ihr Abteil verirrte, sich in eine Ecke setzte und sich dann in ein Buch vertiefte. Alle vier waren natürlich zu den üblichen derben Späßen aufgelegt und irgendwie musste sich Harry hier wieder einmal besonders hervorgetan haben, denn urplötzlich sprang die lesende Dame auf und sah mit zornfunkelnden Augen in die Runde, während sie ihr Gepäck ergriff und die Abteiltür aufriss.
„Der da“, und sie zeigte mit zitterndem Finger auf Harry, der noch den Lachkrampf seiner letzten Zote verarbeiten musste.“ Der da ist ja wohl der absolute Frauenfeind! Hier bleibe ich keine Minute länger!“
Sprach’s und verschwand wutschnaufend aus dem Abteil.
Die vier sahen sich verständnislos an und feixten.
„Fuchs, du Weiberfeind“ grinste Uwe. „Du vergraulst uns aber auch immer die Frauen!“
Harry zuckte nur die Schultern und war sich keiner Schuld bewusst, schließlich hatten sie alle nur die üblichen Männerzoten auf einer Sauftour von sich gegeben – na ja, vielleicht hatte Harry hin und wieder noch ‚ne Schippe extra draufgelegt. Konnte vorkommen, wenn ihn der Teufel ritt. Und bei dieser Tour hatte er verdammt gute Laune.
Der Vorfall war nach der nächsten Runde Büchsenbier aber eh schnell wieder vergessen.
Kurz darauf gingen zwei Frauen an dem Abteil vorbei, sahen kurz in die Runde und Uwe und Horst winkten eifrig. Auf dem Rückweg kamen die beiden, bewaffnet mit einigen Bierdosen ins Abteil.
„Hey, die Sonne geht auf!“ grölte Horst.
„Sach jetzt nix falsches, Alter“, warnte Uwe mit einem Funkeln im Blick und schubste Harry in die Seite.
Harry machte ein unschuldiges Gesicht und grinste eine der beiden Blondinnen an, die prompt neben ihm Platz nahm.
Es stellte sich heraus, dass zu den beiden – ach wie passend – noch zwei weitere Freundinnen gehörten, die in einem benachbarten Abteil warteten. Die vier Mädels waren auf Kegeltour irgendwohin in den Süden – wohin interessierte weder Harry noch seine drei Begleiter. Nach kurzer Zeit waren alle vier Frauen in ihrem Abteil und in bierseliger Laune waren bald Zungen und Hände all überall auf munterer Entdeckungstour.
Wäre zu der Zeit ein Schaffner ins Abteil gekommen, hätte er sicherlich geglaubt, das biblische Sodom samt Nachbarstadt Gomorrha wäre in dieses Abteil verlegt worden und Harry dachte im Nachhinein, dass Frauen alleine auf Kegeltour nicht Opfer sondern aktive Jägerinnen wären, denn geziert hatte sich keine der vier, obwohl alle erzählten, verheiratet zu sein. Im Hinterkopf notierte sich Harry, sollte er jemals heiraten, würde er seiner Frau – wenn schon nicht das Kegeln an sich – aber auf jeden Fall Kegeltouren im Alleingang untersagen…
Bevor aus dem fröhlichen Knutsch-Inn eine wüste Orgie werden konnte, erreichten die vier Mädels ihren Zielbahnhof und den Rest der Fahrt verbrachten Harry, Horst, Uwe und Thomas zunächst mit der Vernichtung weiterer Bierdosen und zuletzt mit einem unbequemen Nickerchen in den Abteilsitzen, bevor man in den frühen Morgenstunden München und etwas später Fürstenfeldbruck und Jochens Wohnung erreichte, wo die vier im Wohnzimmer quer auf dem Boden verstreut erst einmal den versäumten Schlaf nachholten, um für die nachmittags geplante Tour zur Wies’n gerüstet zu sein.
Am frühen Nachmittag war man wieder fit, geduscht und gestylt und frohen Mutes ging es zum S-Bahnhof Fürstenfeldbruck, wo in einer nahen Gaststätte erst einmal für eine solide Biergrundlage gesorgt wurde, bevor es dann weiter ins gelobte Land – sprich zum Münchener Oktoberfest ging.
„‘ne etwas größere Kirmes“, resümierte Uwe nach einem ersten Rundgang über die berühmte Wies’n, „nur mit horrenden Preisen.“
Die anderen konnten ihm da aus ganzem Herzen zustimmen. Letzten Endes war das Ganze ein gigantischer Nepp mit bemühter bayrischer Volkstümlichkeit, zugeschnitten auf die zumeist auch ausländischen Besucher, die im Anschluss heimreisen und in ihrer Heimat verbreiten würden, dass in Deutschland alle in bescheuerten Lederhosen und mit komischen Hüten rumlaufen würde – die Damen würden alle ihre Auslagen in enge Dekolletees quetschen, die jederzeit aus allen Nähten zu platzen drohten und als Gipfel des Ganzen, würden sich alle hemmungslos besaufen und dabei zu Blasmusikkapellenbegleitung schunkeln und Schweinshaxen in sich reinschaufeln, bis sie von den Bänken fielen…
Irgendwann fanden die fünf einen Platz vor einem der vielen Zelte, in denen die großen Gaudi-Shows für Promis und andere halbseidene Möchtegerns stattfanden und bestellten sich voller Vorfreude ihre ersten Runde Wies’n-Maß.
„Eh“, maulte Harry und starrte auf den Krug vor sich, in dem der schwindende Schaum leidlich Zeugnis davon ablegte, dass die Maß keine Maß war. „Könnt ihr auch mal richtig voll Zapfen?“
Die Kellnerin – ein Baum von einer Frau, die mühelos 10 und mehr der Ein-Liter-Krüge stemmte, bedachte ihn  mit einem verächtlichen Seitenblick und murmelte etwas wie „Preiß ‘n halt.“
Und verschwand wieder.
„Komm, hör auf zu meckern“, Horst hob seinen Krug und alle stießen sie an. „Lasst uns lieber anfangen…“
Es kam Runde auf Runde – leider immer wieder in nicht vollgezapften Krügen und aller Protest nutzte nichts. Die Bedienung würdigte sie nur mit verächtlichen Blicken, ohne natürlich das Kassieren zu vergessen. Für die nichtvollen Gläser gab es natürlich auch kein Trinkgeld. Nichtsdestotrotz stieg die Laune der fünf immer mehr und es gab gar erste Verbrüderungen mit lederbehosten Einheimischen und deren zumeist in viel zu enge Dirndl gezwängten Begleiterinnen.
Irgendwann kam zum wiederholten Male eine nicht vollgezapfte Runde an und neuerliches Gemecker der „Preußen“ wurde mit Verachtung abgestraft.
„Warum, zum Teufel“, hob Harry plötzlich an. „Warum und worauf seid ihr gottverdammten Bauern eigentlich so verdammt stolz, ja geradezu arrogant?“
Er hatte sich erhoben, nahm einen tiefen Schluck aus seinem Krug und starrte die Gesellschaft an seinem Tisch an, die inmitten des Oktoberfesttrubels auf einmal ganz still wurde.
„Ja, worauf bildet ihr euch so verdammt viel ein? Ihr Bauern…“
Horst und Uwe winkten ihm, er solle still sein und rollten verzweifelt mit den Augen – aber Harry war wieder einmal in seinem Element, obwohl schon bei der Bezeichnung „Bauern“ die meisten Blicke nicht mehr von Neugier sondern von unverhohlener Wut zeugten.
„Doch nicht etwa auf so einen schwulen, beknackten Lackaffen mit seinen lächerlichen Schlössern…“
Es hätte eine tolle Rede werden sollen aber mit einem Mal schlug Harry der blanke Hass entgegen. Kleiderschränke in (lächerlichen) Lederhosen sprangen auf und knallten ihre Bierkrüge vor sich auf die Tischplatte. Einer krempelte demonstrativ seine Hemdsärmel auf und schickte sich an, um den Tisch herum zu kommen.
„Der hatte doch voll einen Hau weg…“ wollte Harry fortfahren.
„Hängt ihn auf!“ forderte jemand. „Der lästert den Kini!“
„Ja, an den nächsten Baum g’hört so oaner!“ ereiferte sich ein anderer und auch Harry sah ein, dass er irgendetwas Falsches gesagt haben musste und in Anbetracht der wütenden Masse vor ihm, entschloss er sich, schleunigst das Weite zu suchen.
Zum Glück war er klein, dick und wendig und so entschlüpfte er seinen nächsten Angreifern und schaffte es, in der Menge der anderen Besucher unterzutauchen. Nur aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass seine Freunde seinen Rückzug mitmachten und zum Glück war es nicht weit, bis um die nächste Ecke, wo sich Harry nach Luft schnappend gegen die Hauswand lehnte und vorsichtig zurückblickte und dankbar sah, dass ihm außer seinen Freunden niemand folgte.
Uwe schritt sogar relativ lässig voran und schwenkte den halbvollen Bierkrug, den er in dem Getümmel mitgenommen hatte und nahm einen tiefen Schluck.
„Also eins ist sicher, Harry“, grollte er und wischte sich den Schaum aus dem Schnäuzer, „Mit dir Großmaul war ich zum letzten Mal auf dem Oktoberfest!“
Auf der Rückfahrt am nächsten Tag konnten alle wieder darüber lachen – aber tatsächlich reiste niemand aus der Gruppe jemals wieder zum Oktoberfest…

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