Donnerstag, 12. Dezember 2013

Auf und davon

Hinterher konnte keiner der Drei darauf schwören, wer diese Wahnsinnsidee an jenem
Sonntagabend im Spätherbst des Jahres 1979 zuerst hatte. Die Idee war irgendwann nach der vierten oder fünften Tüte einfach da, stand so im Raum herum und grinste Harry, Rolf und Gerhard herausfordernd an.

„Jo“, raffte sich Gerhard zwischen zwei Zügen an der frisch gedrehten Tüte auf zu sagen. „Das wär’s doch. Einfach alles hinschmeißen und ab dafür.“

„Einfach nur weg!“ stimmte Rolf zu und streckte die Hand herausfordernd nach dem kreisenden Torpedo aus. „Alles hinschmeißen, jo. Raus aus dem faden Dorf…“

Harry setzte sich in seinem Sessel, in dem er im Laufe des Nachmittags Joint für Joint immer tiefer gerutscht war halbwegs aufrecht zurecht und grunzte einen Ton der Zustimmung.

„Man, die Welt ist so groß und wir verschimmeln hier in diesem dämlichen Dorf!“ Gerhard redete sich langsam in Rage. 
„Auf einem Schiff hinaus in ferne Länder – Afrika, Amerika…“ Seine Augen glänzten und es war schwer zu sagen, ob daran nur das Dope schuld war oder seine Gedanken an ein Leben fernab von hier.

Hier war ein kleines Städtchen im Bergischen, zwischen Düsseldorf und Köln. Hier verlief die heiß umkämpfte Grenze zwischen Kölsch- und Altbiertrinkern; eine kleine Minderheit hatte sich dem Genuss eines herben Pils verschrieben.

Keinem der drei ging es wirklich schlecht. Sie waren Anfang Zwanzig, gerade in der Ausbildung oder soeben damit fertig und hatten – wie Rolf und Gerhard im größten ortsansässigen Unternehmen eine Anstellung als Elektriker gefunden.

Aber da war ganz plötzlich der Gedanke, dass da doch noch so viel mehr sein müsste als das, was ihnen in ihrem Städtchen geboten wurde. Mit einem Mal vernahmen alle drei den verlockenden Ruf der Ferne und glaubten auf ihren Zungen den Geschmack von Abenteuer zu schmecken.

„Komm, Harry. Lass uns dein Auto auftanken und dann nix wie weg.“
Gerhard entwickelte sich zum Wortführer.
„Und wohin?“ Rolf bewahrte zunächst noch die Distanz, während Harry nach den jüngsten beiden Zügen am Joint wieder tief in seinen Sessel versunken war und seine Augen scheinbar fest verschlossen hatte.

„Ja, Alter – wohin soll’s gehen?“ murmelte Harry und entschloss sich doch, die Augen zu öffnen. „Meint ihr woanders ist es besser als hier?“
„Nur, wenn wir in diesem muffigen Land bleiben“, ereiferte sich Gerhard. Wieder nahm er zwei tiefe Züge von der immer kleiner werdenden Tüte und blies gewaltige Rauchwolken in Harrys kleine Einzimmerwohnung. „Wir müssen halt weg. Ganz weit weg!“

Er reichte den Torpedo an Rolf weiter, der einen tiefen Zug tat.
„Afrika…“
„Wat willste denn in Afrika?“ fragte Rolf.
„Weiß nicht“, erwiderte Gerhard. „Wir können ja auch überall woanders hin. Hauptsache weg…“

„Nach Afrika kommen wir aber nicht mit meiner Karre!“ warf Harry ein und kämpfte sich erneut aus den Tiefen seines Sessels hervor.
„Du bist ja wohl blöd, Alter!“ Gerhard zeigte Harry den Vogel. „Wir müssen doch nur nach Hamburg oder so, zum nächsten Hafen und dann heuern wir auf einem Schiff an…“
„Auf einem Schiff?“ fragte Harry. Begeisterung sollte sich eigentlich anders anhören. „Wie soll denn das gehen?“

„Man, zieh erst nochmal, bevor der Joint hinüber ist…“ Gönnerhaft reichte Gerhard das Rauchwerk weiter. „Es gibt doch Schiffsjungen. Jeder von uns kann doch irgendwas. Wir können uns die Überfahrt verdienen und wo es uns gefällt, gehen wir von Bord…“

Gerhard war ganz Feuer und Flamme.

„Jaul“, stimmte Rolf, jetzt bar jeder Skepsis, ein. „Gerhard und ich sind Elektriker. Elektrik gibt’s auf jedem Schiff…“
„Na toll“, warf Harry ein. „Ich bin angehender Sozialarbeiter. Soll ich zur Besatzung predigen…?“
„Na, ein Deck wirst du doch wohl noch schrubben können…“ Gerhard grinste und trommelte mit den Fingern auf dem Tisch.
„Ich will doch keine Putzfrau werden…“

„Maaahnn“, jetzt sprang Rolf in die Bresche. „Das ist doch nur, bis wir irgendwo an Land gehen. Und dann lassen wir uns alle lange Pimmel wachsen und leben wie Gott in Frankreich…“
„Nach Frankreich schafft's meine Karre so gerade noch…“
„Stell dich nicht so an, Harry.“ Gerhard und Rolf standen jetzt mitten im Zimmer, voller Tatendrang.

„Hoch mit dir prallem Sack. Wir können sofort los.“ Rolf griff nach seiner in einer Ecke liegenden Gitarre und schlug einen – nicht sehr lupenreinen – Akkord. „Wenn alle Stricke reißen werden wir Straßenmusiker. Ich spiele und Harry singt dazu…“
„Und ich soll wohl den Tanzaffen machen?“ zeigte sich nun Gerhard nicht gerade sehr begeistert.
„Ach kommt, jetzt rafft euch auf.“ drängelte Rolf.

Harry kam halb aus dem Sessel hoch.
„Na gut. Aber zuerst muss ich meinem Chef noch was schreiben.“
„Harry, der merkt schon, wenn du auf einmal nicht mehr kommst…“ Gerhard verdrehte die Augen und zeigte einmal mehr einen Vogel in Harrys Richtung.

„Ne, das muss alles schon seine Ordnung haben“, wehrte sich Harry und raffte sich auf, um nach etwas zum Schreiben zu suchen. „Geht ratzfatz und das kann ich ja auf dem Weg zur Autobahn im Büro in den Briefkasten werfen…“

Gerhard schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf, murmelte etwas wie „Sesselpupser“ vor sich hin und inspizierte Harrys Kühlschrank, während Rolf sich wieder auf der Couch niederließ und einige Akkorde klimperte.

„Heh, Alter. Du hast ja noch ‚ne ganze Fleischwurst da drin!“ jubelte Gerhard und bückte sich tiefer in den Kühlschrank. „‘ne Cola, vier Flaschen Bier und etwas Käse. Ich glaub, ich schmiere uns noch ein paar Brote, das reicht dann schon mal bis Hamburg…“

Eine knappe Stunde später saßen die drei Abenteurer dann in Harrys Wagen, hatten tatsächlich noch eine Art Entschuldigungs-Kündigungsschreiben in den Briefkasten am Büro von Harrys Chef eingeworfen und fuhren auf der Autobahn in Richtung Norden.

Zunächst kamen sie aber nur bis zur ersten Raststätte, an der eine neue Tüte gedreht wurde, damit man auf dem Level blieb, dass man sich den ganzen Sonntag über mühsam erarbeitet hatte. Im Dunst der Haschischwolken, die gemächlich begannen das Führerhaus von Harrys altem Ford auszufüllen wurde noch einmal beratschlagt, wohin man denn nun als erstes wolle.

„Hamburg hat einen Welthafen!“ erläuterte Gerhard. „Da müssen wir hin, da beginnt das Abenteuer, das wirkliche Leben…“
„Ne“, ließ sich Rolf vernehmen. „Ich hab mal gehört,  dass man sich besser von Bremen aus einschifft.“

Letzten Endes einigten sich die drei nach einer weiteren Tüte und einer klitzekleinen Lüftungspause darauf, die Fahrt nach Bremen fortzusetzen, weil sie sich in dem kleineren Hafen bessere Chancen ausrechneten, einfach so  mir nix dir nix anzuheuern.

Es sollte eh mehrere Rauchpausen dauern, bis man am nächsten Morgen mehr oder weniger benebelt den Weg nach Bremerhaven fand, wohin man sie auf Nachfrage geschickt hatte.

In Bremerhaven fanden sie fast ausschließlich Frachtkähne und sie sprachen jeden an, der ihnen wie ein Seebär erschien. Doch auf ihre Anfrage nach einer Heuer ernteten sie oftmals lediglich ein mitleidiges Kopfschütteln und so manch ein Angesprochener wird nicht zu Unrecht gedacht haben, dass die drei wohl ganz schön zugekifft sein müssten.

Irgendwann kam dann der entscheidende Tipp, sich an das zuständige Arbeitsamt im Hafen zu wenden. Mittlerweile hatte die Aussicht auf eine Heuer und Abenteuer in den weiten Fernen der Welt merklich an Reiz verloren.

Dementsprechend ernüchternd verlief dann auch das Gespräch auf dem Arbeitsamt. Hatte das romantisch verklärte Bild über eine Seereise der drei so langsam aber sicher spürbare Risse bekommen, sollten alle Illusionen nach dem Gespräch mit einem Arbeitsberater in Schall und Rauch vergehen.

Klar, die beiden ausgelernten Elektriker würden mit Kusshand nach einer Einarbeitungszeit auf jedem Schiff genommen werden – zu Arbeitsbedingungen, die denen im heimatlichen Betrieb in Nichts nachgestanden hätten. 
Für einen angehenden Sozialarbeiter sah es dagegen mehr als mau aus – nicht einmal mehr Schiffsjungen, die die Scheissekübel ausleeren würden, gab es mehr.

Also standen Rolf, Gerhard und Harry gegen Mittag wieder vor ihrem Wagen und warfen einen letzten Blick über die im Hafen liegenden Frachtschiffe. 
Rolf wirkte sogar etwas erleichtert, Harry war in Gedanken bereits wieder in seinem Jugendhaus und lediglich Gerhards Blick war nicht bar einer gewissen Sehnsucht. 

Tatsächlich sollte er auch einige Jahre später derjenige sein, der wirklich von Heute auf Morgen seine Siebensachen nahm und bis zum Ende der 80er Jahre von der Bildfläche verschwand.

Als er dann, gesundheitlich stark angeschlagen, aber um die Segnungen des heimatlichen Gesundheitssystems wissend, zurückkehrte, hatte er einige Jahre an der Elfenbeinküste verbracht unter Verhältnissen, die seine Kumpels nicht eben zu begeistern wussten. 

Dennoch war Gerhard wenig später wieder verschollen und tauchte erst 2004 zu Harrys Hochzeit aus heiterem Himmel für einige Tage wieder auf.

Rolf ist seit langen Jahren ein etabliertes Mitglied der Gesellschaft und geht seinem Beruf bis heute in leitender Position nach.


Nur über den Werdegang von Harry decken wir weiterhin den Mantel des Schweigens – zumindest sei gesagt, dass er niemals Sozialarbeiter wurde…

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