von Helen Kowalewski
Erziehung kann ja so
erschreckend sein!
Da hört man aus allen Ecken Leute reiferen Alters über die
Jugend von heute schimpfen und deren Erziehung bitter beklagen, und obwohl ich aufgrund meiner vielen entsprechenden
Kontakte die Meinung vertrete, dass die meisten jungen Leute eigentlich recht
ordentlich geraten sind, muss ich ihnen plötzlich zustimmen.
Nein, ich bin NICHT überfallen worden.
Angepöbelt hat mich auch niemand, sieht man mal von dem
„charmanten, jung gebliebenen, sensiblen“ Mittsiebziger ab, der mich in einem
der gängigen Social Networks anbaggerte
und von mir einen Korb bekam, weil ich mich irgendwie mit den von ihm in
Aussicht gestellten Lebenshöhepunkten nicht anfreunden konnte, wie: uns
gemütlich auf der Couch einer der actiongeladenen (gähn) amerikanischen Serien
oder die neueste hochintelligente deutsche Show reinziehen , zu Worten und
Klängen von Andrea Berg oder Helene Fischer einen flotten Disco Fox aufs
Parkett legen, begeistert zu den Klängen der angesagten Blaskapelle
mitklatschen, im eigenen Garten Unkraut jäten (ganz zu schweigen von der
Verarbeitung des vielen an- bzw. abfallenden Obstes) und was der ähnlichen Knaller
Erlebnisse mehr sind. Und Außendienstler vor meiner Wohnungstür (ob jugendlich
oder nicht) werden von mir auch stets rasch und (bis zu einem gewissen
Aufdringlichkeitsgrad) meist auch höflich verabschiedet. Niemand wollte an mein
Leben, meine Gesundheit oder gar mein Eigentum…
Was ist also passiert?
MAN HAT MIR IM BUS EINEN PLATZ ANGEBOTEN!
Wie schockierend!
Ich bin doch nicht alt!!!
Andere in meinem Alter sind alt, aber ich doch nicht!
Nicht,
dass mir nicht schon seit einiger Zeit aufgefallen wäre, dass meine Rappenmähne
sich langsam zum Schimmelfell wandelt. Nicht, dass die Lachfalten rund um die
Augen im Spiegel immer mehr Canyons ähneln. Nicht, dass der Körper nicht ab und
an reklamiert, dass ich nicht immer besonders sorgfältig mit ihm umgegangen
bin. Aber so bewusst, wie in dem Augenblick, als der attraktive Jungspund im
gut besetzen Bus von seinem Sitz aufstand und mir seinen Platz anbot, so
deutlich habe ich bisher noch nie die Last meiner Jahre empfunden.
Muss ich mich jetzt langsam mal nach Rollatoren, Gebissen
und preiswerten aber guten Pflegeheimen umsehen? Muss ich damit rechnen, dass
mein Hirn langsam aber sicher in Richtung Demenz strebt? Wie lange noch, bis
ich über meine Kondition nicht mehr meckere, sondern sie auf immer
verabschiede?
Leute, das kann und
darf doch nicht wahr sein!
Und das mir, die ich noch so viel vorhatte, wie reich
werden, meine Liste der noch nicht besuchten Sehenswürdigkeiten auf der ganzen
Welt abarbeiten, die große Liebe erleben usw., werde durch ein Beispiel guter
Erziehung grausam daran erinnert, dass auch mein Leben endlich ist und mir das
Gras, in das ich beißen werde, mit rasanter Geschwindigkeit entgegen wächst.
Alle diese Gedanken schossen mir während besagter Situation
in Lichtgeschwindigkeit durch den Kopf. Okay, die Synapsen funktionieren also
noch. Kein Grund zu Panik, junge Frau! Das Teenie wollte nur nett sein und dich
keineswegs direkt in Richtung Altersheim manövrieren.
Es ist ja nicht so, dass man sich kurz vor der 60 nicht schon mal Gedanken darüber gemacht
hätte, aber Tatsache ist, dass für mich das Alter ähnlich weit entfernt ist,
wie einem Erstklässler die nächsten Sommerferien…. Äonen!!! Und dann muss man
anhand solch eines Erlebnisses feststellen, dass es höchstens noch ein paar
Jahre sind, die einem bleiben. Und die Jahre werden immer kürzer. So langsam
verstehe ich meine Mutter immer besser, die bei anfallenden Sanierungsmaßnahmen
unseres Hauses so treffend bemerkte „Das ist doch gerade (vor über 20 Jahren)
erst gemacht worden!“
Das alles sind
Gedanken, die mich seit diesem Erlebnis quälen. Und die Ursache dieser
Panikattacken: ein junger Mann steht auf
und fragt freundlich aber völlig unbedarft darüber, was er emotional in dir anrichtet:
„Möchten Sie sich setzen?“
Und das alles nur, weil Erziehung doch noch zu funktionieren
scheint. Liebe Eltern, ihr wisst ja gar nicht, was ihr mir damit angetan habt!
Warum konntet ihr euren Sohn nicht zum oberflächlichen Egoisten erziehen, wie
andere Eltern auch….
Ach ja… ihr wollt
sicher noch meine Reaktion wissen: „Wenn du dich auf meinen Schoß setzen
willst, gerne. Aber ich hab keinen Lolli dabei…“
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