Samstag, 19. April 2014

Riskante Geschäfte

„Dann sind wir ja klar“, resümierte Hans und lehnte sich auf dem Sofa zurück. „Du kommst freitags direkt nach dem Dienst nach Hause, wir sorgen dafür, dass dann die Kohle bereitliegt und du kümmerst dich um das Dope.“
Harry nickte, während er sich Mischung in den Kopf der Huka schaufelte, um sich anschließend das Gerät an den Mund zu halten und die Ladung mit einem tiefen Zug zu inhalieren.
„Ja, das geht klar – und Jörg fährt mich dann Sonntagabend zurück in die Kaserne.“

Alles war geregelt.

Pünktlich zu Beginn seines Wehrdienstes war es Harry gelungen, eine günstige Connection aufzutun, bei der er die wöchentlichen Ladungen Rauchware für sich und seine Mitstreiter in der Tafelrunde bekam. Die Sache hatte nur den Haken, dass derjenige nur in Kontakt mit Harry treten wollte und auch während des Wehrdienstes keinen Vertreter akzeptieren wollte. Obwohl er natürlich Harrys sämtlichen Kumpels nicht unbekannt war, pflegte Walter, ein großes Tamtam um seine Tätigkeit zu veranstalten.
Aber was sollte es – die Connection war günstig und vor allem zuverlässig, so dass sich Harry auf den Deal mit seinen Kumpels einließ und fortan pünktlich nach Dienstschluss Freitags zum Delmenhorster (später zum Celler) Bahnhof eilte, um die schnellste Verbindung in sein Heimatdorf zu erwischen, wo er von Jörg oder Hans oder auch schon mal Tobi mit einem Bündel Geldscheine erwartet wurde, die er in den nächsten Stunden in die begehrte Rauchware verwandeln sollte.
Ein Unterfangen, das auch immer reibungslos verlief: Ankommen, Geldübergabe, einen kurzen Abstecher zu Walter, der dann den Zeitpunkt der Abholung der Ware festlegte und dann halt spät abends die Drogenübergabe und anschließende Verkostung im Kreise der Gruppe, die sich in Anlehnung an Monty Pythons „Die Ritter der Kokosnuss“ die Tafelrunde nannten, wohl wissend, dass sie alles andere als ritterlich waren – höchstens genauso plemplem wie die Python’sche Ritterrunde…

Es ging immer alles klar, Woche für Woche – bis:

Harry und Walter hatten 21 Uhr für die Abholung des Rauschmittels vereinbart und es war selbstverständlich, dass Harry auf die Minute pünktlich an Walters Wohnung klingelte, der auch beinahe sofort die kleine Klappe in seiner Haustür öffnete und mit leicht glasigem Blick hinausspähte.
„Was willst denn du?“ lautete die barsche, leicht nuschelige Frage.
„Wir hatten eine Verabredung“, erwiderte Harry und vermied es, im Hausflur über das brisante Unternehmen zu sprechen, ganz so wie Walter es ihm bei jedem Treffen immer wieder in seinen neurotischen Augenblicken eingebläut hatte.
„Kann nicht sein“, kam die Antwort und Walter wandte sich ab.
„Heh, Moment“, Harry wurde ein kleines bisschen lauter und schob die Hand in das Türfenster, bevor Walter es schließen konnte.
„Ich hab dir vor drei Stunden die Kohle gebracht und jetzt erwarte ich die vereinbarte Lieferung!“
Es sollte entschlossen wirken, doch Walters gelangweilter Blick ließ ihn unsicher werden.
„Was sonst?“ kam die gleichgültig gestellte Frage.
„Ja sonst“, Harry überlegte. Eigentlich kam er mit Walter, den er auch außerhalb des wöchentlichen Drogendeals schon seit etlichen Jahren zumindest flüchtig kannte, ganz gut klar. In vielen Dingen lagen sie auf einer Wellenlänge – zumindest solange es nicht um harte Drogen ging, von denen Harry glaubte, dass Walter diese auch in nicht unbeträchtlicher Menge konsumierte.
„Sonst…“ Harry zuckte die Schultern und wurde wieder unsicher. „Sonst wirst du erleben, was passiert…“
Das klang ganz und gar nicht taff und Harry wusste es, auch ohne das höhnische Gelächter hinter dem sich schließenden Türfenster.

„Toll!“ schoss es Harry durch den Kopf. „Tolles Wochenende! Fängt ja mal wieder prima an!“

Er trollte sich mit dunklen Gedanken die Treppe hinunter aus dem Haus und suchte den Treffpunkt mit seinen Freunden auf.
„Das gibt’s nicht!“ ereiferte sich Tobi, der von ihnen körperlich der Kleinste war und hieb mit dem Hackmesser wütend in den Rest der Mischung, die er in Erwartung des Nachschubs vorbereitet hatte. „Haben sie dem ins Hirn geschissen, oder was?“
Harry rollte mit den Augen und zuckte einmal mehr mit den Schultern.
„Und jetzt?“ Tobi war richtig böse – der Großteil der Kohle stammte aus seiner Tasche.
„Was soll ich machen?“ nuschelte Harry, der sich gar nicht wohl fühlte, denn obwohl solcherart Geschäfte natürlich keine rechtliche Grundlage hatten, war er für den Verlust der Summe verantwortlich und das hieß bei seinem Wehrpflichtigen Sold – er wollte lieber nicht daran denken….

Hans war es, der erst ganz ruhig die Huka neu füllt, sich das Gerät ansetzte und den Inhalt des Kopfs in einem langen, tiefen Zug inhalierte, danach genüsslich eine gewaltige Rauchwolke ins Wohnzimmer blies und sich im Sessel zurücklehnte.
„Keine Panik!“ sagte er und kämpfte gegen einen Hustenanfall an. „Das kriegen wir schon wieder hin…“
„Ja, Klasse“, nörgelte Harry. „Soll ich morgen zu Walter gehen und ihm eine einscheppen?“
Schon bei dem bloßen Gedanken an diese Aktion wurde ihm ganz schlecht. Walter war mehr als einen Kopf größer als Harry und von seiner Statur her, würde er ein gewaltiges Pfund in den Schlag seiner Fäuste geben können. Harrys K.O. war so gut wie vorprogrammiert.
„Ne“, lachte Jörg und tat seinerseits einen Zug aus der Huka.
„Ganz sicher nicht.“ bestätigte Hans und blickte in die Runde. „Da hast du Null Chance, aber wir könnten dem mal so richtig einen Schrecken einjagen. Danach rückt der dir das Dope schon raus…“
Hans strich sich das lange blonde Haar hinter die Ohren.

„Tobi, du hast doch da zu Hause ein paar Knarren…“

Harry quollen bei diesen Worten fast die Augen aus dem Kopf.

Waffen!

Scheißdreck – schon beim Bund waren ihm die Dinger suspekt und nach einem ersten Probeschießen, dass ihm zumindest bestätigte, dass er die anvisierte Richtung halten konnte, hatte er seine eigene Methode entwickelt die andauernden Schießübungen mehr oder weniger zu boykottieren. Und jetzt schlug Hans allen Ernstes den Einsatz und – nein nicht wirklich, oder? – Gebrauch von Schusswaffen vor.
Klar Tobias war ein Waffennarr und in seinem Zimmer in der elterlichen Wohnung lag immer was rum – mal eine Automatik; einen einschüssigen Schrot-Derringer hatte Harry auch schon mal probeweise angefasst – und natürlich der 45er Colt: dieses gewaltige, schwere Ding, bei dem sich Harry immer fragte, wie die Westernhelden damit so schnell ziehen und schießen konnten…

„Also – bei Waffen bin ich raus“, wehrte Harry ab und Jörg und Hans brachen wegen seines erschrockenen Gesichtsausdrucks in schallendes Gelächter aus.
Tobi war schon auf der Suche und kam kurz darauf tatsächlich mit einer Automatik und dem berüchtigten 45er zurück. Hans zog seine Jacke aus und griff nach seinem kleinen Revolver, den er aus nie näher definierten Gründen schon seit geraumer Zeit immer mit sich herumtrug. Er überlegte es sich anders und griff nach dem 45er, wog ihn in der Hand. Bei ihm sah das relativ locker aus und unvermittelt warf er die Knarre zu Harry, der sie gerade so mit beiden Händen auffing – und dennoch nicht verhindern konnte, das dieses mächtig schwere Gerät scheppernd auf den Wohnzimmerboden krachte, was ihm sämtliche Farbe aus dem Gesicht trieb, bei dem Gedanken, ein Schuss könne sich lösen.
„Keine Angst, du Schisser“, feixte Tobias und öffnete die rechte Hand, in der 6 Patronen funkelten. „Hab’s nicht geladen – viel zu gefährlich in der Bude!“
Mit leicht zitternden Fingern hob Harry den Ballermann vom Boden auf und wiegte ihn prüfend in der rechten Hand, die sofort wieder einen unwiderstehlichen Drang entwickelte, sich dem Fußboden zu nähern.
„Boah, ist das Scheißding schwer“, jammerte er.
„Kein Problem – das kriegst du morgen schon hin und denk dran, der, der in den Lauf dieser Kanone guckt, hat ganz bestimmt noch mehr Schiss als du…“

Es ließ sich wohl nicht vermeiden – am nächsten Morgen klingelte Harry bei Walter und stiefelte, nachdem er die Haustür aufgedrückt hatte, die zwei Etagen hinauf, wo Walter schon aus seinem Türfensterchen lugte.
„Du schon wieder“, grinste er und wollte sich gleich wieder abwenden.
Harry fasste all seinen Mut zusammen und riss den Colt hoch, den er unter seiner Jacke versteckt gehalten hatte. Er schob den Lauf durch das Fenster und lehnte die Waffe auf den Rahmen, froh, dass die Auflagefläche das Zittern seiner Hand kaschierte.
„Pass auf, Walter“, sagte er mit einem leichten Schwanken in der Stimme. Seine Knie fühlten sich gerade weich wie Pudding an und er wünschte sich an so ziemlich jeden Ort der Welt – nur nicht gerade hierhin und zu diesem Augenblick. „Bevor du jetzt wieder was Falsches tust und mich zwingst Sachen zu tun, die ich gar nicht tun will – Geh einfach mal an dein Wohnzimmerfenster, zieh die Gardine zur Seite und guck mal auf die Straße.“

Ob es normal war, dass sich gerade jetzt seine Blase meldete? 

Harry hatte das Gefühl, dass der Revolver in seiner Rechten von Sekunde zu Sekunde immer schwerer wurde.
Walter wurde blass, starrte kurz wie hypnotisiert in den Lauf des 45er und bewegte sich rückwärts vom Fenster fort.
Schweiß rann Harry ins rechte Auge und brannte so höllisch, das er mit der linken Hand die Flüssigkeit wegwischen musste.
„Hoffentlich ist Walter nicht aufgefallen, dass ich den Abzugshahn überhaupt nicht gespannt habe!“ durchzuckte es ihn. Tobias hatte ihm gestern Abend lange und immer wieder eingebläut, dass er das tun solle, bevor er das Ding auf Walter richtete, denn den Revolver abzufeuern, ohne zuvor den Hahn zu spannen, hatte sich bei den Trockenübungen als unmöglich herausgestellt.

Bei dem Versuch, jemandem den Kopf wegzublasen, würde er sich wahrscheinlich eher das rechte Ei wegschießen…

Er hörte Walter im Wohnzimmer mit der Gardine rascheln und ihn dann erschrocken einatmen, als auf dem Bürgersteig – in Sichtweite zu seinem Wohnzimmerfenster – Hans und Tobias mal eben kurz ihre Jacken anhoben und ihre im Hosenbund und Hans‘ Schulterhalfter befindlichen Knarren aufblitzen ließen…
Der Schweiß auf seiner Stirn wollte nicht versiegen und jetzt brannten beide Augen höllisch. Harry sah eigentlich kaum noch etwas und das Zittern seiner Hand musste jetzt auch für einen Blinden ganz klar zu erkennen sein und seine Beine – „Mein Gott! Ich kippe gleich aus den Latschen und pisse mir auch noch in die Hose!“ durchzuckte es Harry, während er hörte, wie Walter zurück kam.

„Mann, Alter“, rief er halblaut durch das Fenster und hantierte am Türschloss. „Das war doch alles  nur ein Riesenmissverständnis…“

Die Tür öffnete sich, Harry zog die Wumme zurück und steckte sie mit letzter Kraft in den Hosenbund – zum Glück gesichert, seine Eier waren in diesem Augenblick einer immensen Gefährdung ausgesetzt – und stakste mit unsicheren Schritten hinter Walter her, der entgegen seiner sonstigen Art nicht aufhören wollte, sich mit einem unendlichen Wortschwall für das „Versehen“ zu entschuldigen.

Irgendwann saß Harry dann wieder im Kreis seiner Kumpane, setzte das Huka an und haute sich einen extra fetten Kopf in die Birne. Er bekam noch mit, wie ihm Hans anerkennend auf die Schulter klopfte, blies in Begleitung eines fürchterlichen Hustenanfalls eine gewaltige Rauchwolke in den Raum und griff nach dem Revolver, den er mit immer noch zitternden Händen vorsichtig auf den Tisch ablegte und mit einer Bewegung, die alle Verachtung der Welt beinhaltete, zu Tobias hinüberschob.

Eines war sicher: Harry war für solcherart Action nicht gemacht und für ihn war klar, dass diesen Job schnellstmöglich jemand anders übernehmen musste.

Dann erreichte das THC wohl seinen Verstand, der in einen wohligen Nebel eintauchte, in dem sich langsam aber sicher die unendliche Angst dieses Morgens verlor…

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen